Versteckte Perlen am Roggenhausenbach
Der Partizipationsprozess für den Roggenhausenbach nahe Aarau wurde von Kathrin Schlup von Sanu begleitet. In diesem Artikel beschreibt sie den Ablauf dieses Prozesses und wie sie das Wirken und Gelingen am Roggenhausenbach erlebt hat.
Wir befinden uns am Roggenhausenbach, einem der letzten freifliessenden Bäche im Schweizer Mittelland. Es ist Frühling, am Boden hat sich bereits ein sattes Grün ausgebreitet, das trockene Braun des vergangenen Jahres wird immer mehr verdrängt. Die ersten Bäume tragen ihr lichtes Frühlingslaub, die Luft riecht feucht und ist beseelt vom Alltag der Vögel: Singdrosseln, Tannenmeisen, Spatzen und Specht liegen uns in den Ohren. Der Roggenhausenbach plätschert an diesem kühlen Morgen lieblich und unbeschwert. Wir stellen die Fahrräder ab und machen uns auf die Suche nach der Quelle.
Zu zweit wollen wir den Roggenhausenbach begehen, um ihn besser kennen zu lernen. In den nächsten Monaten werden die Stadt Aarau, die Ortsbürgergemeinde Aarau und der Natur- und Vogelschutzverein Unterentfelden zu einem Partizipationsprozess einladen, mit dem Ziel, dass sich die menschlichen Akteure darüber verständigen, wie sie sich in den nächsten fünf Jahren um den Bach kümmern möchten. Natürlich gibt es da noch andere Akteure, die den Roggenhausenbach prägen: zum Beispiel alle Tiere und Pflanzen, die in und um den Bach leben; auch das Gestein, das ihn trägt und von Gletschern geformt wurde oder das Wetter, das Hochwasser- und Dürrezeiten verursachen kann. Diese Akteure können wir schlecht ins Kultur- und Kongresshaus Aarau einladen, um über die Zukunft zu reden. Umso schöner ist die Begegnung mit ihrer wilden Mischung an diesem Aprilmorgen.
Mitwirken in der «Assemblage»
Die Quelle des Roggenhausenbachs ist für uns nicht auszumachen. Auf einer krautigen Fläche mit undurchdringlichen Brombeeren hat es immer wieder matschige Stellen, die sich dann aber doch, mitten im Nirgendwo, zu einem Graben treffen. Nach mehreren Metern machen wir ein zaghaftes Rinnsal aus, und plötzlich beginnt der Bach: er schiebt letztjährige Buchenblätter vor sich her, windet sich zwischen Fichten und Farnen, gräbt sich in den Waldboden ein und schlägt einen weiten Bogen um die Wiese mit den Bachbumbele, bevor er den Sprung über die Felskante wagt. Der Bach steckt uns an mit seiner Lebendigkeit, nach den zögernden Schritten im Quellgebiet schreiten wir beschwingt mal links, mal rechts den Mäandern entlang.
Bei meiner Arbeit als Begleiterin und Moderatorin von Transformationsprojekten werde ich von institutionellen Geldgebern – in der Regel von Organisationen, Unternehmen und Verwaltungseinheiten – meist nach der Wirkung des Projekts gefragt. Diese Wirkung wird unterschieden nach Outcome und Impact, also unmittelbaren Auswirkungen durch das Projekt selbst und mittelbaren, die der Veränderung hin zu mehr Nachhaltigkeit angerechnet werden können. Doch wie und wo entsteht diese Wirkung? Und wer wirkt da genau auf wen? Wer ist für die Wirkung verantwortlich?
Der Bach ist eine «Assemblage» verschiedenster Akteure, die miteinander wirken. Was uns am Bach als das Natürlichste der Welt erscheint – dass das Wasser auf den Fels und die Vegetation wirkt und umgekehrt – passiert in allem, was wir tun, ebenso. Wirkung ist kein direktes Produkt von individueller oder kollektiver Aktion, sie ist auch nicht dem Lebendigen und schon gar nicht den Menschen vorbehalten. Die Wirkung unserer Handlungen entsteht im Zusammenspiel der Akteure - menschlichen und «anders-als-menschlichen» - mit dem, was sie umgibt. Starke Beziehungen zwischen den Akteuren führen zu einem gemeinsamem, balancierten und nachhaltigen Miteinander-Wirken. Das ist es, was das Gewässerperle PLUS-Label anstrebt: starke Gemeinschaften, die sich um die wilden Gewässer in der Schweiz kümmern.
Wer gehört dazu?
In Aarau, Unterentfelden und Biel sitzen wir vor unseren Bildschirmen und planen den ersten Anlass des Partizipationsprozesses. Wen laden wir ein, und wie? Für das Gewässerperle PLUS-Label ist klar: alle potenziell interessierten Stakeholder müssen die Möglichkeit haben, sich einzubringen. Fünf Ortsbürger- und Einwohnergemeinden liegen entlang dem Flusslauf, verteilt auf zwei Kantone. Dann gibt es private Grundeigentümer, Naturschutzprojekte und -vereine, Jugendgruppen wie die Cevi, Jagdgesellschaften, das Naturama, den Tierpark, die Schulen und die breite Öffentlichkeit, von der wir vermuten, dass mindestens die Spaziergängerinnen mit und ohne Hund, Reiter und auch Pilzlerinnen interessiert sein könnten. Im Laufe unseres Gesprächs stellen wir auch fest, dass wir gar nicht so genau wissen, wo der Bach seine Grenzen hat. Dass die Ufer dazugehören, ist uns klar. Aber wie viele Meter links und rechts des Wasserlaufs müssen wir dazurechnen, und sollten es überall gleich viele sein? Wer gehört alles dazu?
Damit Partizipation gelingt, müssen Akteure zusammenfinden und über ihre Interessen und Befürchtungen reden. Ein Landwirt möchte am Informationsanlass wissen, ob ihm mit dem Label engere Vorschriften gemacht würden. Die Vertreter eines Naturschutzvereins sorgen sich, dass mit der Kommunikation zum Label das Interesse am Roggenhausenbach so stark ansteigen könnte, dass der Lebensraum von Tieren und Pflanzen neben den Wegen zerstört würde. Gemeinsam werden Fragen formuliert – etwa, wie die Forstwirtschaft dazu beitragen könnte, dass mehr Licht auf den Waldboden trifft. Für alle Anwesenden wird sichtbar, dass ihr Bach unterschiedlich erlebt werden kann, und sie lassen sich sogar auf die Frage ein, was sich wohl der Roggenhausenbach für Entwicklungen wünscht.
Es ist schwierig, einem Bach seine Stimme zu geben – gerade weil er so unfassbar vielfältig zusammengesetzt ist. Und doch verweben sich die Erlebnisse und Erfahrungen der Land- und Forstwirte, der Naturschützer und Jugendorganisationen in eine Geschichte, die den Bach charakterisiert und ihn so in den Saal trägt. Nach dem zweiten Anlass spüren wir es: aus den vielfältigen Interessensvertretenden ist eine Gemeinschaft geworden, die sich um den Bach kümmern möchte. Sich kümmern heisst nicht, dass es keine Konflikte gibt; sich kümmern heisst, dass Verbindungen gepflegt werden, um Konflikte rücksichtsvoll zu lösen. In der «Assemblage» Roggenhausenbach gibt es vielfältige Beziehungen zwischen menschlichen und «anders-als-menschlichen» Akteuren. Gemeinsam ist ihnen allen, dass der Bach für sie bedeutsam und wertvoll ist.
Sich auf Unbekanntes einlassen
Im Kultur- und Kongresshaus Aarau sitzen wir im Mai mit rund fünfzehn Menschen und unterhalten uns darüber, was wir am Roggenhausenbach in fünf Jahren gerne erleben würden. Was soll bewahrt und vor unbedachten Handlungen geschützt werden? Und wo sehen wir Möglichkeiten, das Leben am Bach reicher und tragfähiger zu machen? Der Bericht von Timon Stucki zum Naturzustand des Roggenhausenbachs gibt dazu einige Anregungen, ebenso wie die Erfahrung und das Wissen der Naturschutzvereine und Verwaltungsmitarbeitenden. Es fürchten zwar alle, dass bald unzählige Weglein und Bikerspuren dem Bach entlangführen könnten, gleichzeitig möchte aber niemand für Verbote einstehen. Auch die Cevi sollen weiterhin ihre Plätze nutzen, damit der Bach auch für die Kinder zu «ihrem» Bach wird. An Stellwänden und in Diskussionsrunden entwerfen wir Zielbilder, möglichst konkret, damit das Projektteam davon Massnahmen ableiten kann. Nur schade, dass nicht noch mehr Menschen der Einladung zum Mitwirken gefolgt sind!
An den Anlässen oder Workshops haben die Akteure rund um den Roggenhausenbach geübt, wie sie gemeinsam Fragen beantworten können, auf die es keine eindeutigen Antworten gibt. Nur wenn die unterschiedlichen Bedürfnisse, Wünsche und Befürchtungen der anderen Akteure bekannt sind, können verschiedene Perspektiven eingenommen und gemeinsam Herausforderungen angenommen werden. Voraussetzung dafür, dass das Vertrauen in der Gemeinschaft aufgebaut wird, sind Offenheit, Neugier und die Möglichkeit, sich auf Unbekanntes einzulassen und auch mal die Meinung zu ändern. Das Gelingen dieses Prozesses wird sich erst nach den offiziellen Anlässen, in der Umsetzung zeigen, wenn die gemeinsame Geschichte weitergesponnen wird und die Beziehungsfäden halten.
Zum Ausmalen von Zielbildern gehört auch die Diskussion über Indikatoren. Woran ist erkennbar, dass die Entwicklungen in die richtige Richtung führen? Wie sieht eine gelungene Massnahme aus; am Bach, in der Gemeinschaft und in den Beziehungen dazwischen?
Eine gemeinsame Perspektive
Mittlerweile ist es Sommer geworden. Am Roggenhausenbach pfeifen die Vögel etwas weniger laut, das satte Grün ist nicht mehr nur am Boden sichtbar, sondern bis in die Wipfel. Im lehmigen Matsch neben dem Bach finden wir die Spuren von einem Reh, das hier wohl seinen Durst gelöscht hat.
Noch einmal treffen wir uns im Kultur- und Kongresshaus, um den Entwicklungsplan zu diskutieren. Das Projektteam hat Massnahmen ausgearbeitet, die zu unseren Zielbildern führen sollen – diese werden nun von den Teilnehmenden im Prozess diskutiert. Vom Umgang mit Neophyten über eine sanfte Besucherlenkung bis hin zu einer «Schwammlandschaft» haben die Massnahmen unterschiedlichen Charakter: einige zielen darauf ab, den heutigen Zustand zu erhalten; andere beinhalten Abklärungen zu baulichen Vorhaben und wieder andere sollen die entstandene Gemeinschaft rund um den Roggenhausenbach stärken. Wer kann wo und wann mit Expertise, Erfahrung und Arbeitskraft mithelfen? Die Motivation ist in den Diskussionen ebenso spürbar wie die Rücksichtnahme auf die unterschiedlichen Anliegen. Was würde der Roggenhausenbach wohl plätschern, wenn er uns hören könnte?
Wir spüren auf vielfältige Weise die Dringlichkeit, auf den Klimawandel und den Biodiversitätsverlust zu reagieren. Heute sind sie nicht mehr nur Probleme, die wir abwenden müssen, sondern Tatsachen, mit denen wir einen Umgang suchen. Wir erleben sie als Hitze und als Überschwemmungen, in lebensarmen Böden, die sich ohne Kunstdünger und Pestizide nicht mehr zum Anbau eignen, oder als Vögel, die mangels Insekten verhungern. Wie sehen Erfolg und Gelingen angesichts dieser Herausforderungen aus? Um Antworten darauf zu finden, wird der technologische Fortschritt allein nicht reichen. Vermutlich müssen wir uns viel grundlegender um Veränderung bemühen: wie können wir immer wieder Konflikte lösen, Rücksicht nehmen und gesunde Beziehungen zu Menschen und zum «Anders-als-Menschlichen» pflegen? Ein gelingender Fortschritt könnte sich am Erhalt der Entwicklungsmöglichkeiten ausrichten, daran, wie viele Optionen wir zukünftigen Generationen offenhalten oder sogar schaffen können. Gerade in der Politik erscheint uns die Welt meist als Fülle von binären Entscheiden, die es mit einem «Ja» oder «Nein» zu treffen gilt. Solche Entscheide bilden aber nur selten die komplexen Abhängigkeiten unserer Gesellschaft ab und spalten sie, da mindestens eine Interessensgruppe letztlich als Verliererin dasteht. Die Suche nach tragfähigen Antworten auf die grossen Herausforderungen beginnt viel früher: da, wo wir als Teil eines lebendigen Gefüges mitwirken und uns auf vielfältige Perspektiven einlassen. Wenn wir uns sowohl der Anliegen der Biker, der Sorgen der Forstwirte, der Entwicklung unserer Kinder wie auch der Lebensraum-Ansprüche von Tieren und Pflanzen, mit denen wir den Bach teilen bewusst sind, werden wir mit einer Ambiguität jenseits eines klaren «Ja» oder «Nein» leben müssen. Gemeinsam und situativ finden wir innerhalb der Assemblage Ansätze, die die Verbindungen untereinander stärken und nicht gegeneinander ausspielen.
Die Natur kann uns dabei auch Vorbild sein, als eine Art und Weise der Organisation, die lebendige Entwicklung ermöglicht. Und ebenso kann uns der Roggenhausenbach und seine Gemeinschaft Vorbild sein: hier wurde eine gemeinsame Perspektive für die nächsten Jahre gefunden, mit den Menschen, denen der Bach etwas bedeutet, und mit einem Interesse am «Anders-als-Menschlichen», das überall mitwirkt. Was für eine Perle!
Der Zustand des Roggenhausenbachs wurde im November 2023 durch Timon Stucki vom Büro UNA (www.unabern.ch) hinsichtlich der vorgegebenen Kriterien überprüft. Darauf folgte die Erarbeitung eines Entwicklungsplanes durch alle Interessierten, die sich an drei Anlässen (April – Juni 2024) im Rahmen eines Partizipationsprozesses trafen. Der Verein Gewässerperlen, der das Label vergibt, hat das Antragsdossier im November 2024 geprüft und die Zusage für das Label erteilt. Das Projektteam der Trägerschaft, Daniel Müller (Ortsbürgergemeinde Aarau), Lisa Kaufmann (Stadt Aarau) und Stefan Ballmer (Natur- und Vogelschutzverein Unterentfelden) freut sich sehr, im Januar 2025 das Label entgegenzunehmen.
Der Partizipationsprozess wurde von Kathrin Schlup von sanu (www.sanu.ch) begleitet. In diesem Artikel beschreibt sie den Ablauf dieses Prozesses und wie sie das Wirken und Gelingen am Roggenhausenbach erlebt hat.
Die Perle im Mittelland
Lisa Kaufmann, was macht den Roggenhausenbach zur Perle?
Im Mittelland gibt es kaum noch natürlich fliessende Bäche. Die allermeisten wurden korrigiert, um Siedlungen zu schützen und landwirtschaftliche Flächen zu vergrössern. Damit fehlt unserer Landschaft ein natürliches, dynamisches Element. Unser vermeintlich unscheinbarer Roggenhausenbach hat sich als wahre Perle erwiesen: über drei Kilometer, von der Quelle bis Roggenhausen, fliesst er frei durch sein Tal und bietet Pflanzen und Tieren eine natürliche Heimat.
Was ändert sich mit dem Label am Roggenhausenbach?
Die Zertifizierung soll nicht dazu führen, dass Land- oder Forstwirtschaft verboten werden, oder dass plötzlich viel mehr Touristen dem Bach entlang wandern. Vielmehr ist es eine Auszeichnung für die, die ihm schon lange Sorge tragen: die Landbesitzer, die Naturschutzvereine, aber auch die Cevi, die Spazierenden und alle, die geholfen haben, ihn zu erhalten. Mit dem Label wird aber auch der Entwicklungsplan ausgezeichnet, in dem wir zusammen festgehalten haben, was wir genau so bewahren möchten, wie es heute ist, und wo wir noch Verbesserungsmöglichkeiten sehen.